August 24, 2021
Offener Brief der Vielen an den Berliner Senat
An den Senator für Inneres und Sport
An den Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung
An den Senator für Kultur und Europa
– Senatskanzlei –
Jüdenstraße 1
10178 Berlin
Berlin, 24. August 2021
Kunstfreiheit darf nicht auf die Terrorliste
Sehr geehrter Herr Senator Andreas Geisel,
Sehr geehrter Herr Senator Dr. Dirk Behrendt,
Sehr geehrter Herr Senator Dr. Klaus Lederer,
wir wenden uns an Sie nach dem wir durch jüngste Medienberichterstattung (u.a. taz und Süddeutsche Zeitung – siehe Anhang), die schriftliche Anfrage von Niklas Schrader (LINKE) am 27. Juli 2021 sowie deren Beantwortung in der Drucksache 18/28 239 am 10. August 2021 und durch die Künstler*innen selbst auf den nachfolgenden, äußerst alarmierenden Vorgang aufmerksam wurden.
Den oben genannten Quellen entnehmen wir, dass das Berliner LKA empfohlen hat, das Künstler*innenkollektiv „Peng!“ auf die bundesweite Terrorliste des Verfassungsschutzes aufzunehmen. So bestätigt es die Staatssekretärin der Justiz von Berlin Dr. Daniela Brückner gegenüber Mitgliedern der Künstler*innengruppe. Begründet wird dies mit der durch das Kollektiv gemeinsam mit der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland initiierten und betriebenen Webseite tearthisdown.com, die sich kritisch mit kolonialen Denkmälern und Straßennamen auseinandersetzt. Die Einstufung erfolgte aufgrund des Vorwurfs, dass diese angeblich zu Straftaten aufrufe.
Wir erkennen hierin einen grenzüberschreitenden, beispiellosen Vorgang, der die Freiheit der Kunst gefährdet und Künstler*innen mit extremistischen Gruppen wie etwa der Al-Nusra Front oder potenziellen NSU-Attentätern in Verbindung bringt und formal sogar gleichsetzt.
Die Liste über terroristische Personen und Organisationen wurde erstellt, um diese mit restriktiven Maßnahmen bekämpfen zu können, um schwerwiegende und Staat und Bevölkerung gefährdende Angriffe aufzudecken und zu verhindern. Die Aufnahme von Künstler*innen, die sich für Zivilcourage stark machen, sich für die Bestärkung von marginalisierten Minderheiten in unserer Gesellschaft einsetzen, Demokratiedefizite anmahnen und 2018 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurden, ist nicht nachvollziehbar. Sie erscheint nicht nur unverhältnismäßig, sie führt den Sinn und Zwecke der bundesweiten Liste zur Bekämpfung von Terrorismus völlig ad absurdum.
DIE VIELEN e.V. tritt zusammen mit einem breiten Bündnis der Kulturinstitutionen in Deutschland für eine demokratische Gesellschaft ein – mit der Überzeugung, dass Gesellschaft erst durch plurale Perspektiven gestaltet wird und die Kunstfreiheit als eines der zentralen aber auch sensibelsten Grundrechte geschützt werden muss. Als Zivilgesellschaft werden wir immer wieder benennen, wenn die Exekutive ihr Gewaltmonopol entgegen der Gewaltenteilung etwa in der Zusammenarbeit mit den Verfassungsschutzbehörden missbraucht oder zumindest deutlich überzieht und dadurch Künstler*innen zur Zielscheibe von demokratiefeindlichen, denunzierenden Bestrebungen und Vorverurteilungen werden.
Die vor der Empfehlung der Aufnahme auf die Terrorliste durchgeführten Durchsuchungen von Büroräumen und privaten Wohnungen von Mitgliedern des Künstler*innenkollektivs fassen wir als ein politisches Signal an alle Künstler*innen in Berlin und deutschlandweit auf, die sich in künstlerischen Aktionen in einem politischen progressiven Sinne äußern.
Zudem ordnen wir das Vorgehen gegen das Peng! Kollektiv – als eine von insgesamt vier Initiator*innen, die auf der Website genannt werden – als Maßnahme ein, die sich sehr konkret gegen die Künstler*innen richtet.
Die Einstufung erscheint angesichts der langjährigen Arbeitsweise des Kollektivs, das sich mit thematischer Aktionskunst in den politischen wie ästhetischen Diskurs einbringt, aus Sicht von DIE VIELEN e.V. und den hier unterzeichnenden Kunst- und Kultureinrichtungen sowie Künstler*innen unverhältnismäßig. Die ergriffenen Maßnahmen sind für die Unterzeichnenden nicht nachvollziehbar.
Wir fordern fachliche Expertisen einzuholen, die die künstlerische Arbeit einordnen bevor Künstler*innen als Terroristen eingestuft werden. Wir bitten außerdem die Staatssekretärin für Justiz, dem beschriebenen Vorfall nachzugehen und ihn aufzuklären. Ferner bitten wir den Senator für Inneres, zukünftig ein Vorgehen, welches die Aufnahme von Künstler*innen auf die bundesweite Terrorliste auf Basis ihrer künstlerischen Arbeit als angemessen betrachtet, auszuschließen und das entsprechende Verfahren zu korrigieren.
Mit freundlichen Grüßen
Holger Bergmann, Vorstandsvorsitzender
Raul Walch, Vorstand
Karoline Zinßer, Leitung Geschäftsstelle
DIE VIELEN e.V.
Erstunterzeichner*innen
andcompany&Co, Berlin
Ausstellungsprojekt KUNST GEGEN RECHTS
Dirk Teschner
ATZE Musiktheater
bbk berlin – berufsverband bildender künstler*innen berlin e.V.
Heidi Sill und Zoë Claire Miller, Sprecherinnen
Berliner Clubcommission
Berliner Ensemble
Clara Topic, Kuratorin und Mitglied der Theaterleitung
Oliver Reese, Intendanz
Berliner Festspiele GmbH
bigNOTWENDIGKEIT
Anna K. Becker, Katharina Bischoff, Esther Becker, Katrin Hylla
Bund Deutscher Amateurtheater e.V.
Irene Ostertag, Geschäftsführerin
Chaos Computer Club
Coalition of Cultural Workers Against the Humboldt Forum
Natascha Sadr Haghigian, Lucas Odahara und Ina Wudtke, Künstler*innen
CTM Festival
Jan Rohlf
Dramaturgische Gesellschaft (dg)
EGfKA Kollektiv
Friedrichstadt-Palast Berlin
Dr. Berndt Schmidt, Intendant
Futur II Konjunktiv
Gob Squad Arts Collective
HAU Hebbel am Ufer
Annemie Vanackere, Intendantin
Margarita Tsomou, Kuratorin Theorie & Diskurs
Haus der Kulturen der Welt Berlin
Anselm Franke, Bereichsleitung Bildende Kunst und Film
Haus für Poesie
Dr. Thomas Wohlfahrt, Leitung
Holzmarkt, Berlin
Institut für Angewandtes Träumen, Moers
Dr. Peter Donas
kainkollektiv
Fabian Lettow & Mirjam Schmuck, Freie Regisseur*innen, Bochum
KLANGZEITORT, Berlin
Irene Kletschke, Geschäftsführende Koordinatorin
Kathrin Rusch, Öffentlichkeitsarbeit
LAFT Berlin – Landesverband freie darstellende Künste Berlin e.V.
mehrblick&ton, Musiktheaterkollektiv, Berlin
Therese Schmidt
Neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK)
Annette Maechtel, Geschäftsführung
Birgit Effinger, direkt gewähltes Mitglied im KOA
Nids, Neues Institut für Dramatisches Schreiben, Berlin
Maxi Obexer
regie-netzwerk
Magz Barrawasser, Markus Heinzelmann, Steffen Klewar, Antje Thoms, Jakob Weiss, Ron Zimmering
Rimini Protokoll
Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel
Schaubude Berlin
Tim Sandweg, Künstlerische Leitung
Schaubühne Berlin
Thomas Ostermeier, Regisseur und künstlerischer Leiter Christian Tschirner, Leitender Dramaturg
SHAKESPEARE COMPANY BERLIN
Oliver Rickenbacher, Vorstand
Sophiensaele
Franziska Werner, Künstlerische Leiterin
tak – Theater Aufbau Kreuzberg
Tanzfabrik Berlin
TATWERK | Performative Forschung
Aurora Kellermann & Chris Wohlrab
Theaterwerkstatt KURINGA Uferstudios GmbH
Simone Willeit, Geschäftsführung
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz René Pollesch, Intendant
!Mediengruppe Bitnik
Carmen Weisskopf & Domagoj Smoljo, Künstler*innen
… sowie die folgenden Privatpersonen
Ulf Aminde, Weissensee Kunsthochschule Berlin
Aino Laberenz, Geschäftführung Operndorf
Sibylle Berg, Dramatikerin/Autorin
Lisa Birker Balzer, Schauspielerin Schauspielhaus Graz
Jan Böhmermann, Satiriker
Jan Deck, Theatermacher, Frankfurt am Main
Murat Dikenci, Kurator/Schauspiel Hannover
Sigrid Gareis, Ko-Leitung Studiengang „Kuratieren in den szenischen Künsten“, Universität Salzburg in Kooperation mit FU und Tanzfabrik Berlin
Philipp Harpain, Leiter des GRIPS Theaters
Bernadette La Hengst, Musikerin und Regisseurin
Hauke Heumann, Schauspieler
Dr. Robin Junicke,Theaterwissenschaftler Ruhr-Uni Bochum/Dramaturg
Thomas Köck, Autor Suhrkamp Verlag
Jasmina Kuhnke, Antifaschistin
Dirk Laucke, Dramatiker
Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater, Berlin
Thomas Mehlhorn, Schauspieler Hamburg
Alexej Lochmann, Schauspieler Schauspielhaus Graz
Miriam Michel, Künstlerin NRW
Katharina Pelosi, Swoosh Lieu / Theatermacherin und Audiokünstlerin
Steffen (&) Lars Popp, Theater(mit)macher, Autor und Dramaturg, Offenbach Felizitas Stilleke, freie
Kuratorin/Dramaturgin
Klaas Heufer-Umlauf, Schauspieler und Moderator
Jakob Weiss, Regisseur
(Letzte Eintragung: 24. August 2021, 10:30 Uhr)