Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Deutschland sagt Sorry!
  • Widerspruch zum Grundgesetz

    Das im Rahmen der Agenda 2010 verabschiedete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) steht an mehreren Stellen im Widerspruch zum Grundgesetz.

    Artikel 1
    (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

    Der Leistungsbeitrag des Arbeitslosengeldes II entspricht dem von der Bundesregierung errechneten Existenzminimum. Die Kürzung der Leistungen durch Sanktionen, die vom Jobcenter als Bestrafungs- und Druckmittel eingesetzt werden, ist menschenunwürdig: Ein Existenzminimum darf nicht unterschritten werden.

    Artikel 12
    (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
    (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
    (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

    Nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) gilt für erwerbsfähige Arbeitslose prinzipiell jede Arbeit als zumutbar. Leistungsempfänger*innen sind deshalb verpflichtet, jede vom Jobcenter vorgeschlagene Stelle anzunehmen, unabhängig von ihrer Qualifikation und ihren Wünschen, auch wenn die neue Tätigkeit sie nicht aus der Abhängigkeit von Leistungen führt.

    Im Fall von Langzeitarbeitslosen kann es sich hierbei auch um “1 Euro-Jobs” handeln (1 Euro pro Stunde zusätzlich zum ALG II), die aufgrund des fehlenden Arbeitsvertrags, der Tarifbindung und des Anspruchs auf Bezahlung bei Krankheit eher einem Pflichtdienst als einer Arbeit gleichkommen.

    Diese durch die Hartz-Gesetze erfolgte Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln ist paternalistisch und unterläuft die Selbstbestimmung. Werden “zumutbare” Arbeitsangebote nicht angenommen, werden die Empfängerinnen und Empfänger mit Kürzungen der Bezüge zwischen 30 Prozent und 100 Prozent für 3 Monate sanktioniert.

    Die verschärften Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige, die beim ersten Verstoß die Kürzung der Leistung bis 100 Prozent vorsehen, stehen im Widerspruch zu dem Gleichheitsatz Art. 3 GG: „Alle Menschen sind vor Gesetz gleich“ und diskriminieren Menschen aufgrund ihren Alters.

    Die Kürzung von Leistungen durch Sanktionen, die Menschen unter das Existenzminimum zwingen und teilweise die Mittel zum Leben um bis zu 100 Prozent streichen, widersprechen dem im Art. 20 und 28 GG verankerten Sozialstaatsprinzip.

  • Sanktionen - Ein System der Bestrafung und Disziplinierung

    In Deutschland gibt es ein Existenzminimum, das jedem Menschen zur Verfügung stehen sollte. Dabei geht es um Beträge, die eine minimale gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen sollen. Sie werden durch statistische Erhebungen festgelegt und bilden die Grundlage für viele staatliche Förderbeiträge.

    Jobcenter können aber gegen Menschen, die sich auf die finanzielle Hilfe des Staates verlassen müssen, Sanktionen verhängen. Sie kürzen die monatlichen Leistungen damit unter das Existenzminimum. Die Einführung von Sanktionen im Zuge der Agenda 2010 hat ein System der "Anreize" geschaffen, das auf materiellem Druck, Bestrafung und Einschüchterung basiert.

    Die Sanktionierung von Hartz IV-Empfängerinnen und Empfängern durch das Jobcenter drängt Menschen, die sich ohnehin schon an der Armutsgrenze befinden, in ein Leben unterhalb des Existenzminimums. Diese Praxis ist nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde, sie ist nicht einmal wirksam. Denn trotz Sanktionierung ist die Vermittlungsquote der Jobcenter seit Jahren rückläufig und die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit hat sich seit der Agenda 2010 nicht verkürzt.

    Außerdem werden Sanktionen oft unrechtmäßig verhängt. Ein erheblicher Teil der Widersprüche (knapp 40 Prozent) und Klagen (über 50 Prozent) gegen Sanktionen sind erfolgreich. Dennoch werden Verstöße gegen Vereinbarungen nur auf Seiten der Leistungsempfänger*innen sanktioniert.

    Sanktionen funktionieren als Druckmittel, damit Menschen befristete und unsichere Stellen im Niedriglohnsektor akzeptieren oder an oft unsinnigen Maßnahmen teilnehmen – Stellen und Maßnahmen, die teilweise massiv vom Staat subventioniert werden. Sanktionierung bedeutet mithin, Menschen in Not lebenswichtige Mittel zu entziehen – um gleichzeitig privaten Unternehmen Profite zu ermöglichen.

  • Arm trotz Arbeit

    Die Hartz IV-Reformen haben die Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft dramatisch verschärft. Die Arbeitsmarktreform ebnete den Weg für die Schaffung von befristeten, unsicheren, niedrig entlohnten Arbeitsverhältnissen (Minijob, Midijob, 1 Euro-Job und Leiharbeit), in die Arbeitslose durch Leistungskürzungen, strenge Zumutbarkeitskriterien und scharfe Kontrolle gedrängt werden.

    Oft reichen diese Beschäftigungen nicht aus, um die Existenz zu sichern und sie führen somit keineswegs aus der Armut und aus der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. 1,3 Millionen Menschen müssen, obwohl sie arbeiten, beim Jobcenter „aufstocken“. Die Zahl der Menschen, die trotz Arbeit aufstocken müssen, ist seit dem Inkrafttreten der Agenda 2010 um 130 Prozent gestiegen.

    Heute arbeiten 24,4 Prozent der Deutschen im Niedriglohnsektor. 80 Prozent davon sind Menschen, die mindestens eine Ausbildung abgeschlossen haben. Der „Abbau von Arbeitslosigkeit“, den die Reform bewirkte, bedeutet also für Millionen Menschen keinen Ausweg aus dem Bezug von staatlichen Leistungen, sondern den Ausbau von Beschäftigungsformen, die nicht existenzsichernd sind.

  • Wer profitiert? Indirekte Subventionen an Privatunternehmen auf Kosten der Armen

    Während durch die Kürzung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und das Sanktionssystem massiver Druck auf die einkommensschwächsten deutschen Haushalte und Familien ausgeübt wird, profitieren andere gesellschaftliche Akteure erheblich von den Reformen.

    Die Reformen haben kaum neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen, die erwerbslose Menschen langfristig aus der Arbeitslosigkeit befreien. Vielmehr sind bestehende Arbeitsplätze in prekäre, befristete oder geringfügige Beschäftigungen umgewandelt worden. Die Lohnarbeit wird durch den Druck zur Arbeitsaufnahme (Sanktionen) und „Aufstockung“ (Lohnsubvention) unter Wert verscherbelt. Niedrige Löhne garantieren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern billige Arbeitskräfte, erhöhen den Profit und erlauben Ersparnisse bei den Lohnnebenkosten. Unternehmen können so Menschen beschäftigen, ohne existenzsichernde Löhne und mit sehr niedrigen bzw. keinen Beiträgen zur Kranken- oder Sozialversicherung zu bezahlen.

    Ferner subventioniert in manchen Fällen die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit einem Eingliederungszuschuss, indem sie für die Anfangszeit einen Teil des Lohnes der zu vermittelnden Arbeitslosen übernimmt. Er muss selbst im sofortigen Kündigungsfall nach Auslaufen der Förderung nur teilweise zurückgezahlt werden. Dies führt oft dazu, dass es für Unternehmer günstiger ist, Menschen nach der subventionierten Eingliederungszeit wieder zu entlassen und andere zu beschäftigen, anstatt die vorher vermittelten langfristig anzustellen.

    Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts öffnete zudem Tür und Tor für Leiharbeitsfirmen, die Erwerbslose häufig nur für kurze Dauer und unter prekären Bedingungen weitervermitteln und kontinuierlich an dem Leiharbeiterstatus verdienen. Zusätzlich zu möglichen Vermittlungsgebühren von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bekommen sie auch für jede erfolgreiche Vermittlung zusätzlich einen Eingliederungszuschuss von der Arbeitsagentur in Höhe von 30 Prozent bis 50 Prozent des Lohnes.

    Insgesamt gibt der Staat im Jahr ca. 11 Miliarden Euro aus, um Jobs zu subventionieren, die nicht Existenz sichernd sind. Er ermöglicht damit Unternehmen den Zugang zu billigen Arbeitskräften und entsprechend höheren Gewinnen, während die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Arbeit auf staatliche Leistungen angewiesen bleiben.

    Die billige Arbeitskraft, die durch diesen auf verschiedenste Weise staatlich subventionierten Niedriglohnsektor geschaffen wurde, ist zudem Druckmittel für die (noch) Beschäftigten und erzeugt Konkurrenz und Lohndumping für gerecht entlohnte Arbeit. Die Reformen der Agenda 2010 und das daraus resultierende deutsche „Wirtschaftswunder“ wurden auf dem Rücken der Erwerbslosen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich ausgetragen. So führten die Reformen zu einer verschärften Umverteilung von Ressourcen von unten nach oben.

    Interessanterweise trat zeitgleich zur Hartz-Reform auch eine Steuerreform in Kraft, die Eingangssteuersatz und Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer senkte und damit Kapitaleigentümer*innen sowie Spitzenverdiener*innen begünstigte.

  • Stigmatisierung der Erwerbslosigkeit

    Die Reform wurde von einer starken medialen Kampagne unterstützt, die das Bild des „faulen“ und „arbeitsunwilligen“ Erwerbslosen etablierte, die den Staat ausnutzen wollen und deshalb aktiviert werden müssten. 2005 wurden beispielsweise Arbeitslose (indirekt) mit Parasiten verglichen, während Bundeskanzler Schröder Arbeitslose als faul darstellte und der heutige Finanzminister Schäuble von dem Sozialstaat als einer Hängematte sprach. Und das, obwohl mehr als die Hälfte derer, die einen Anspruch auf Sozialleistungen haben, diesen, einer DIW-Studie nach, gar nicht erst einfordern.

    Im Jahr 2015 standen drei Millionen Arbeitsuchende nur einer Million offener Stellen gegenüber. Die neoliberale Rhetorik der Agenda 2010 hat es jedoch geschafft, Massenerwerbslosigkeit, eine der systemischen Eigenschaften des Spätkapitalismus, als ein individuell verschuldetes anstatt strukturell bedingtes Problem darzustellen.

    Dabei trifft die Stigmatisierung der Erwerbslosen nicht nur diese allein. Sie wirkt zugleich auch auf die prekär Beschäftigten und die Familien am unteren Rand der Mittelschicht. Die Angst vor dem Abstieg in die Erwerbslosigkeit erhöht die Bereitschaft gerade bei denjenigen, die sich ökonomisch gefährdet sehen, auch noch die widrigsten Arbeitsbedingungen auszuhalten. Nicht zuletzt auch, um lieber „würdig“ als „unwürdig“ arm zu sein.