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„Es ist ein Praktikum im Prekariat“
43 Minuten konnten wir mit dem Chef von Lieferando sprechen – weil er gedacht hat, dass er mit der Bundesregierung telefoniert. In diesem Telefonat hat er uns einiges verraten was er so von nervigen Betriebsräten hält und wie er sich die Zukunft des Lieferdienstes ausmalt.
Die sogenannte Gig-Economy begleitet uns schon seit ein paar Jahren. Ihre Unternehmen heißen Uber, Lieferando, Fiverr oder Urban Sports. Diese Plattformen vermitteln Aufträge an Taxifahrer*innen, Lieferdienste und Handwerker*innen. Eines haben sie gemeinsam: die Arbeitnehmer*innen bezahlen alle anfallenden Kosten und Risiken aus eigener Tasche. Uniformen müssen gekauft werden, Räder, die kaputt gehen, müssen selbst in Stand gesetzt werden. Wer ist angestellt, wer ist selbstständig und welche Rechte hat der/die Arbeitnehmer*in? Das sind häufig ungeklärte Fragen in der „Gig-Economy“ – einem neuen Wirtschaftsmodell, in dem Menschen nicht mehr angestellt, sondern pro „Gig“ – pro Auftrag – bezahlt und häufig nur über eine Plattform koordiniert werden.
Diese platforms dominieren immer mehr Bereiche der Gesellschaft und ändern so grundlegend die Arbeitswelt und unser Zusammenleben. Wie in so vielen Bereichen hat auch im Gig-Geschäft die Coronakrise die bereits bestehenden Problempunkte deutlich hervorgehoben. Als Beispiel haben wir hinter die Kulissen vom größten und mittlerweile einzigen Lieferdienst Deutschlands geschaut: Lieferando.
43 Minuten konnten wir mit dem Chef von Lieferando sprechen – weil er gedacht hat, dass er mit der Bundesregierung telefoniert. In diesem Telefonat hat er uns einiges verraten was er so von nervigen Betriebsräten hält und wie er sich die Zukunft des Lieferdienstes ausmalt. Er erzählte uns zum Beispiel, dass er sich eine Änderung des Gesetzes wünscht, sodass nicht mehr jede Woche auf lokaler Ebene ein Dienstplan blockiert werden könne. Er sagte im Telefonat: „Warum ist sowas nicht einfach auf nationaler Ebene gestaltet, sondern warum muss es ein lokales Mitspracherecht geben für beispielsweise Schichtplanung, wenn die Schichtplanung bei uns überall gleich gemacht wird?“ Als Mitarbeiterin des erfundenen Bundesamtes für Krisenschutz und Wirtschaftshilfe fragten wir ihn, ob er sich vorstellen könnte die Belegschaft stärker an Entscheidungsprozessen im Unternehmen zu beteiligen. Weil die Behörde ein Problem darin sieht, wie das Unternehmen mit seinen Fahrern umgeht, vor allem im Hinblick auf die Ausrüstung und sachgrundlose Befristung der Verträge (siehe für mehr Infos zum Telefonat das Gedächtnisprotokoll).
Die Onlinegeschäfte sind durch die Pandemie enorm gewachsen. Auch der Chef von Lieferando sieht seine Branche als Gewinner der Krise. Die Arbeiter*innen haben allerdings mit neuen Formen von Ausbeutung zu tun. Sie werden durch eine App kontrolliert, die Informationsungleichheit schafft. Die App weiß alles über die Ridern: wo sie in der Stadt sind und was der nächste Auftrag sein wird. Häufig entscheiden algorithmische Rankings über die Verteilung der Aufträge. So werden langsame Rider automatisch aussortiert. Die Fahrer*innen dagegen bekommen kaum Information.
Immerhin gibt es bei Lieferando Arbeitsverträge und einen Stundenlohn. Aber die Verantwortung für die Hygiene in der unsicheren Anfangszeit der Coronakrise lag zum Beispiel bei den Fahrer*innen. Sie bekamen etwa den Auftrag „kontaktlose“ Lieferungen durchzuführen. Das hieß, der Kunde sollte aus dem Rucksack die Bestellung rausnehmen. Wie allerdings die Desinfektion sowohl für die Kunden als für die Fahrer*innen ablaufen sollte, war unklar. Auch wussten Fahrer*innen nicht wenn ein Kunde sich in Quarantäne befand. Außerdem ist viele Fahrer*innen nicht klar, ob sie ein Recht haben auf Krankengeld.
Die Herausforderungen der Gig-Economy liegen nicht nur im veränderten Arbeitsverhältnis und in der Unklarheit über die Rechte der Arbeitnehmer*innen, sondern auch darin, dass die traditionelle gewerkschaftliche Organisierung und Druckmitteln nicht mehr funktionieren. Wie kannst Du Dich organisieren, wenn besagte App verhindert, dass Du Deine Kolleg*innen triffst und nur wenige länger als 6 Monate im Job bleiben? Und wenn Dein Vorgesetzter sich in Deiner WhatsApp-Gruppe reinschleicht und mitliest wie Du Dich mit Deinen Kolleg*innen austauscht? Welche neue Formen der Solidarität gibt es in der Gig-Economy? Was ist ein „Log-Off-Strike“? Oder wie wäre es zum Beispiel mit einer Fahrrad-Demo von Lieferando-Ridern? Der wichtigste Widerstand findet allerdings nicht mehr im öffentlichen Raum statt. Fahrer*innen treffen sich, teilen Informationen und nutzen diese solidarisch um ausbeuterische Algorithmen etwas entgegen zu setzen. Bleibt aber die Frage: wann wird die Bundesregierung die Arbeitsgesetze an der neuen Situation anpassen und auch in der digitalisierten Arbeitswelt die Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung des 20. Jahrhunderts sicherstellen, statt eine Unterwanderung durch Scheinselbständigkeit zu erlauben?
Diese Fragen stehen im Zentrum in der neuste Peng! Aktion, die in der Winter School „Silent Works“ in Berlin zu sehen ist. Wir haben mit organisierten Ridern, der FAU-Gewerkschaftlerin Sarah Bekker und der Arbeitssoziologin Joanna Bronowicka über Missstände und möglichen Widerstand gesprochen. Und eben mit dem Chef von Lieferando, der uns am Telefon erklärt, welche Arbeitsrechte noch gestrichen werden müssen, damit sein Unternehmen wettbewerbsfähiger wird. Die Situation der Rider bei Lieferando ist ein Beispiel für die Arbeitsbedingungen und Organisierungsherausforderungen in der Gig-Economy und der „Kapitalismus der künstliche Intelligenz“ die auf der Winter School thematisiert werden. Die Eröffnung mit Künstlergespräch ist am 7. November 2020 um 17:00 Uhr. In der Ausstellung bekommen Sie einen Einblick wie ein Gig-Unternehmen wie Lieferando tickt und hören von einem Lieferando-Fahrer und einer Gewerkschafterin von der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter Union (FAU) wie sie sich gegen Missstände wehren.
Das komplette Gedächtnisprotokoll mit Gerbig
Wann:
07.-28. November 2020Mehr Infos hier: https://silentworks.info/
Wenn ihr Lieferando Fahrer*innen trefft, steckt ihnen doch diesen Flyer hier zu – und Trinkgeld.
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„Wir brauchen Zielvorgaben der Politik“
Wie wir die Chefs der deutschen Industrie anriefen und ihre Unternehmen regulierten
Die Klimakatastrophe ist in vollem Gange, eine globale Rezession rast auf uns zu. Wenn wir nicht bald einen radikalen ökonomischen Plan entwickeln, der sozial und ökologisch gerecht ist, können wir damit rechnen, dass unsere Gesellschaften auseinanderreißen. Dass rechtsradikale Kräfte im Meer der Frustration leichte Beute haben.
Doch die Politik traut sich nicht, die Ökonom*innen sind darauf offenbar nicht vorbereitet. Worte wie Suffizienzwirtschaft, solidarische Ökonomie und Postwachstumsökonomie sind noch immer Fremdworte aus dem Katalog der Utopien. Und wenn die Politik die größten Herausforderungen nicht ernsthaft angehen, wenn weiterhin dem Mythos des ewigen Wachstums auf uns eingedroschen wird, müssen wir den Hörer des Wirtschaftsministeriums eben selbst in die Hand nehmen.
Als fingiertes Bundesamt für Krisenschutz und Wirtschaftshilfe haben wir Gespräche mit CEOs und führenden Positionen 10 deutscher Unternehmen, darunter 4 DAX Konzerne, geführt. Wir haben reingehorcht, ob sie bereit für den radikalen Wandel sind, der ohnehin auf uns zukommen wird. Ob sie bereit sind, sich regulieren zu lassen, wenn man die kommenden Krisen-Szenarien offen anspricht. In diesem Video dokumentieren wir unser journalistisch-künstlerisches Projekt, das wir für das internationale Sommerfestival Kampnagel produziert haben:
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Die Reaktionen waren erstaunlich!
Die Fleischwirtschaft wäre theoretisch in der Lage, auf 100% veganes Essen umzustellen. Der größte Wohnungsbaukonzern Vonovia könnte sich vorstellen, Gemeinnützigkeit größer zu schreiben. Die Automobilindustrie reagiert zwar ausweichend auf das Thema Verstaatlichung, doch die Zulieferer haben Verständnis dafür, dass es in der Zukunft weit weniger Individualverkehr geben wird. Auch die Zulieferer der Rüstungs- und Flugbranche dachten laut darüber nach, wie es wäre, zukünftig Züge zu produzieren. Die Telefonate waren Stichproben, doch sie bieten einen Einblick, wie leicht es sein kann, Politik zu betreiben, die sich so nennen darf: das Interesse der gesamten Gesellschaft durchzusetzen – und nicht nur die mikroökonomischen Interessen einzelner Branchen oder nationale Interessen.
Der Chef von Helios, einem der größten Gesundheitskonzerne Deutschlands, hatte wiederum einen solchen Lobesgesang auf die Privatwirtschaft abgehalten, dass er die Dividenden an die Aktionäre mit Steuerzahlungen verglich. Der Chef von RWE zeichnete ein nach unserem empfinden fast schon kolonial geprägtes Bild ewigen Wachstums und ewiger erneuerbarer Energieversorgung – solange sie aus dem Ausland importiert werde.
Überraschend war, wie verflochten die ersten Reaktionen von Politik, Medien und dem größten unserer Telefonpartner – RWE – waren. Nach den ersten Anrufen schaltete sich Kai Diekmann ein, PR Berater der Agentur Storymachine. Die deutsche Presse Agentur dpa und die Welt am Sonntag übernahmen sein Framing: wir seien Betrüger*innen. Wir haben die dpa und die Welt am Sonntag über den Hergang am 2.8. um 12 Uhr angefragt, jedoch keine Antwort mehr vor Redaktionsschluss (5.8., 17 Uhr) bekommen.
Wer hat davon schon einmal gehört: „Bundesamt für Krisenschutz und Wirtschaftshilfe?“ Seit wann gibt es das denn? Oder einfach nur eine ziemlich professionelle und aufwändige Fälschung??? https://t.co/raKmVWecfd pic.twitter.com/zqElG7oa14
— Kai Diekmann (@KaiDiekmann) July 11, 2020
…und die Internetgemeinde half ihm, uns zu finden:
Aufklärung jetzt! https://t.co/kTZbbeJgHN
— Dax Werner (@DaxWerner) July 13, 2020
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Die kompletten Protokolle
Wir haben die Unternehmen mit ihren Aussagen drei Tage vor Veröffentlichung konfrontiert und aufgelöst, dass wir ein journalistisch-künstlerisches Projekt sind. Die gesamten Gedächtnisprotokolle der von uns geführten Gespräche und die Reaktionen der Unternehmen findet ihr unten.
An dieser Stelle möchten wir bei allem Enthusiasmus, was uns da gelungen ist, auch betonen, dass wir keine Fachexpert*innen sind. Wir haben unser Bestes gegeben und sind uns sicher, dass es ausgeklügelte Mobilitätskonzepte geben kann, dass wir den Wohnungs- und Gesundheitsmarkt nachhaltiger gestalten können. Wir glauben, dass wir die Energiebranche und -nutzung auch so gestalten können, dass wir keine Stromfarmen in Staaten des globalen Südens bauen müssen, die ihren Strom selber brauchen werden.
Die Fragen sind komplex. Sie können sicherlich nicht einzeln beantwortet werden, sondern brauchen grundsätzlich neue Ansätze des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Miteinanders. Viele solidarischen Initiativen in der Coronakrise haben da ein Vorbild gezeigt, wie das aussehen könnte, wenn die Fakten uns dazu zwingen. Im gesellschaftlichen Diskurs für die Zukunft stehen wir da offenbar noch ganz am Anfang, und die Zeit ist knapp. Wir hoffen, dass wir einen ersten Schritt in die richtige Richtung vorzeigen konnten.
Alle Gedächtnisprotokolle und Reaktionen
Dies ist ein Projekt, was im Rahmen des internationalen Festivals von Kampnagel stattfindet und gefördert wurde.
Wenn ihr mehr solcher Projekte sehen wollt, werdet Dauerspender*innen!